Pilotstudie zum Einfluss von Winkelrechtsichtigkeit auf gute Handschrift und
sehr gute Leseleistung Volkhard Schroth
nach einem Vortrag auf der IVBV-Tagung im Juni 2006
Ein erster Versuch für ein Open-Source-Projekt, den ich jetzt nur in Kurzform noch hier lassen möchte. In der Ausgabe 01/ 2007 der DOZ wird der Artikel erscheinen...und vielleicht danach als Artikel auf Optometrie-online
Zusammenfassung
Nach Beobachtungen von Lehrern und MKH-Anwendern (MKH = Mess- und Korrektionsmethodik nach H. –J. Haase, Messverfahren zur Bestimmung einer Sehstress-entlastenden Brille) besteht möglicherweise ein Zusammenhang von Winkelrechtsichtigkeit zu guter Handschrift sowie sehr guten Leseleistungen.
In dieser Pilotstudie mit 32 Kindern der zweiten Klassenstufe wird beispielhaft demonstriert, wie sich diese Frage mit möglichst geringem Aufwand wissenschaftlich untersuchen ließe. Der Nah-Kreuztest wurde als Screening der Winkelrechtsichtigkeit verwendet. Die Leseleistung wurde mit einem Lesetest oder nach Einschätzung der Lehrerin bestimmt, für die Beurteilung der Handschrift wurden drei Verfahren im Vergleich verwendet, wobei sich von diesen der „G“-Schreibtest als am besten geeignet zeigte.
In dieser kleinen und zufällig ausgewählten Probandengruppe wurde bei einem Kind die Konstellation von sehr gutem Lesen und guter Handschrift gefunden, allerdings hatte dieses Kind am Nah-Kreuztest ein Exo-Wahrnehmung. Zwei Kinder mit stabiler Nullstellungs-Wahrnehmung am Nah-Kreuztest waren schlechte Leser.
Mögliche Veränderung von Handschrift oder Leseleistung durch MKH-Korrektionen wurden in dieser Pilotstudie nicht untersucht. Die Frage nach dem Zusammenhang von Winkelrechtsichtigkeit und Lesen/ Handschrift bleibt weiterhin offen, mindestens haben aber andere Faktoren einen großen Einfluss auf die Handschrift und die Leseleistung. Das Pilotprojekt hat gezeigt, dass die verwendeten Methoden noch nicht zuverlässig sind.
Diskussion
In diesem Pilotprojekt wurde mit dem Nah-Kreuztest bewusst ein vereinfachtes Screening durchgeführt und auch nicht eine mögliche Ametropie gemessen. Abweichungen von der Nullstellung können ihre Ursache daher nicht nur in der Winkelfehlsichtigkeit haben, sondern auch durch monokulare Fehlsichtigkeiten bedingt sein. Wenn dennoch am Nah-Kreuztest eine stabile Nullstellung angegeben wurde, so kann man davon ausgehen, dass bei diesen Kindern eine ideale Konstellation von Akkommodation und Vergenz vorlag und möglicherweise auch Winkelrechtsichtigkeit.
Der Versuch, mit dieser kleinen und zufälligen Probanden-Auswahl einen Zusammenhang von sehr gutem Lesen und guter Handschrift zu Winkelrechtsichtigkeit herzustellen, ist hier nicht gelungen. Auch bei Exo-Angabe am Nah-Kreuztest ist es möglich, dass ein Kind sehr gut liest und eine sehr gute Handschrift hat.
Die beiden Kinder mit möglicher Winkelrechtsichtigkeit am Nah-Kreuztest gehörten mit Prozentrang 8 und 19 in der WLLP zu den unterdurchschnittlichen bzw. schwachen Lesern und hatten durchschnittliche bzw. gute Leistungen beim Schreiben des Buchstabens „G“. Ein direkter Zusammenhang von Winkelrechtsichtigkeit am Nah-Kreuztest zum Lesen und zur Handschrift konnte nicht gezeigt werden. Andere Faktoren als WF wie zum Beispiel die eingangs aufgezählten Wahrnehmungsleistungen haben vermutlich einen bestimmenden Einfluss auf Leseleistung und gute Handschrift.
Es stellt sich die Frage, ob das in diesem Pilotprojekt verwendete Verfahren mit dem Nah-Kreuztest geeignet ist, die Winkelrechtsichtigkeit feststellen zu können. Bisher wurden keine Vergleichsmessungen durchgeführt, mit denen man die Ergebnisse des Nah-Kreuztests mit der nach MKH bestimmten Winkelfehlsichtigkeit/ Winkelrechtsichtigkeit in Beziehung setzen könnte. Allerdings ist der Zusam-menhang wie bereits beschrieben immerhin plausibel und könnte beispielsweise im Rahmen einer Diplomarbeit an einer der Fachhochschulen mit Studiengang Augenoptik näher untersucht werden.
Sind die Verfahren zur Beurteilung der Handschrift geeignet? Anhand der Ergebnisse von fünf Kindern, die dem Testverfahren zur Auge-Hand-Koordination aus dem DTVP-2 und mit dem Schreiben des Großbuchstabens „G“ geprüft wurden, gibt es erste Hinweise, dass bei Schulkindern die Graphomotorik mit dem DTVP-2 nicht zuverlässig festgestellt werden kann. Möglicherweise sind die Aufgaben des DTVP-2 für Schulkinder bereits zu einfach.
Die Aufgabe des Umfahren von Kreisflächen hat sich in der hier vorgeschlagenen Form für die geprüften Kinder als zu schwierig erwiesen. Entweder war diese Aufgabe insgesamt zu schwierig oder sie deckte Defizite in der Graphomotorik auf, die tatsächlich vorhanden waren. Diese Frage ließe sich nur mit weiteren Untersuchungen klären. Möglich ist auch, dass die Aufgabe zu wenig präzise erklärt wurde und vorher noch hätte geübt werden müssen. Nur damit könnte man sicherstellen, dass ein Kind auch die Aufgabenstellung verstanden hat.
Das Nachschreiben des „G“ scheint anhand der vorliegenden Ergebnisse ein geeigneterer Test zu sein, um die Graphomotorik zu prüfen, weil sich eine annähernde Normverteilung der Ergebnisse zeigte. Für die wissenschaftliche Forschung müsste der „G“-Schreibtest noch normiert werden. Dies könnte mit überschaubarem Aufwand realisiert werden, indem der „G“-Schreibtest in der zweiten, dritten und vierten Schulklasse an mehreren Schulen in verschiedenen Bundesländern durchgeführt würde, um Normgruppen zu bilden und daraufhin Prozentränge zu berechnen. Im Gegensatz zur GMT, dem Testverfahren für Vorschulkinder, wäre es sinnvoll, eine Unterteilung nach Geschlechtern vorzuneh-men, wie ein Untersuchung mit dem GMT an flämischen Kinder gezeigt hat [7]. Erste statische Prüfungen von 110 Kindern zeigen genau diese Unterschiede.
Allerdings kann das Schreiben von Einzelbuchstaben im Vergleich zum Schreiben von Wörtern grundsätzlich nur einen kleinen Ausschnitt des komplexen Schreibvorganges darstellen. Es fehlen weiterhin die wichtigen Faktoren
· „Zeit“ – wie viel Zeit benötigt das Kind für eine gewisse Schreibaufgabe.
· „Richtung“ – wie gleichmäßig und genau ist die Linienführung.
· „Kraft“ – wie viel Druck übt das Kind beim Schreiben aus.
· „Ergonomie“ – wie ist die Stifthaltung, Kopf- und Körperhaltung.
In Anbetracht der Komplexität der Vorgänge beim Handschreiben könnte allein der „G“-Schreibtest nur einen kleinen Teilbereich darstellen und das Thema Handschrift nicht umfassend genug beschreiben.
Schlussfolgerungen
Sowohl von Praktikern, die sich mit der MKH bei Schulkindern beschäftigen als auch von engagierten Lehrern wird ein Zusammenhang von Schulleistungen und Winkelfehlsichtigkeit beobachtet. Wenn eine Winkelfehlsichtigkeit mit einer Prismenbrillekorrigiert wird, können Kinder besser lesen und zeigen eine verbesserte Handschrift. Dies war aber nicht Gegenstand dieser Arbeit, sondern es ging um den Einfluss von Winkelfehl- oder Winkelrechtsichtigkeit auf Lesen und Handschrift. Nur wenn dieser Zusammenhang sehr stark gewesen wäre, hätte er sich vermutlich bereits in dieser kleinen Gruppe mit den hier verwendeten Methoden zeigen können.
Aufgrund der diskutierten methodischen Probleme ist eine eindeutige Aussage aber nicht möglich. Einerseits ist nicht sicher, ob der Nah-Kreuztest tatsächlich eine Winkelrechtsichtigkeit anzeigen kann; andererseits kann eine Bewertung von Handschrift nicht allein mit den hier verwendeten Methoden vorgenommen werden.
Ein eindeutiges Ergebnis hätte mich gefreut, aber viel wichtiger war es mir, den Weg aufzuzeigen und darüber eine kleine Einführung in wissenschaftliches Denken zu geben. Wir haben über viele Jahre hinweg in der MKH allein die Beobachtung in den Mittelpunkt gestellt und zu wenig fundiert geforscht. Und Wissenschaft ist immer ein Risiko. Es kann sich herausstellen, dass selbst jahrelange und von vielen Anwendern bestätigte Beobachtungen können manchmal irrig sein können. Daher soll das wissenschaftliche Denken und Forschen dazu dienen, zufällige oder durch Erwartungshaltungen begründete Effekte von den spezifischen zu unterscheiden.
Für die Praktiker und MKH-Anwender sind solche Unterscheidungen zunächst weniger wichtig. Ich sehe selbst die vielen Erfolge bei Schulkindern, die unter Sehstress leiden und freue mich über die Effektivität der Prismenbrillen. Mir ist dabei auch bewusst, dass das Anbieten eines Hilfsmittels, die Zuwendung und mein Interesse am Kind auch eine wichtige Rolle spielen – und genau darum bereitet mir die Optometrie so viel berufliche Freude.
Volkhard Schroth
Opti-school
Hirschenhofweg 4
79117 Freiburg
0761 – 211 79 47
info@opti-school.de
Literatur
[1] Dominiczak, J. Besser sehen – besser lernen, Eyebizz, 5. 24-26 (2005)
[2] Haase, H.-J. Zur Fixationsdisparation, Optische Fachveröffentlichung GmbH, Heidelberg (1995)
[3] Hammill,D.D., Pearson, N.A., Voress, J.K., Developmental Test of Visual Perception. Second Editi-on. Examiner´s Manual. Austin Pro-ed, (1993)
[4] Küspert, P., Schneider, W. Würzburger Leise Leseprobe (WLLP), Handanweisung. Hogrefe Ver-lag, Göttingen (1998)
[5] Rudolf, H. Die Graphomotorische Testbatterie, Deutsche Schultests Beltz (1986)
[6] Schroth, V. Der WS-Lesetest und seine Anwendung in der Augenoptik/ Optometrie. Optometrie, Ausgabe 4. (1998)
[7] Simons, J., Grondstein, K. Die graphomotorische Entwicklung deutscher und flämischer Kinder im Vergleich. Krankengymnastik - Zeitschrift für Physiotherapeuten\' Ausgabe 1 (2001)
[8] Weiland,G., Schredl, M. Der Developmental Test of Visual Perception 2 (DTVP-2) – ein neuer ame-rikanischer Frostig-Test. Ergotherapie & Rehabilitation, 41(12) S.25-28 (2002)
[9] www.psychologiefachschaft-uniwuppertal.de/skripte/allgemeine1/15.%20Moto... nach
Müsseler, Prinz Allgemeine Psychologie, Spektrum Verlag Heidelberg (2002)
[10] www.wikipedia.de , Stand 20.6. (2006)
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Pilotstudie zum Einfluss von Winkelrechtsichtigkeit auf gute
Hallo Volkhard, danke erst einmal für Deine Mühe und dass ich auf diese Weise auch etwas über die Pilotstudie erfahren kann.
Wenn also die Kinder mit guter Lese- und Schreibleistung oftmals dennoch :wink:elfehlsichtig sind, da kommt man dann doch ins Grübeln. Ebenso, wenn Kinder ohne WF schlechte Leser oder Schreiber sind Es gibt ja noch die echte Legasthenie. Und hier spielt der IQ eine Rolle. Ein KInd mit hohem IQ kann schon mit weniger Fehlern ein Legastheniker sein als ein Kind mit niedrigem IQ, deshalb läuft Legasthenie Austestung immer parallel mit IQ-Austestung (das weiß ich, weil mein Sohn vor einem halben Jahr getestet wurde). Also müsste auch nach dieser Seite weiter geprüft werden.
Dann noch einmal zurück zu den :wink:elfehlsichtigen Kindern mit guter Lese- und Schreibkompetenz Wurde hier auch die Kopfhaltung beobachtet? Sowohl beim Lesen und Schreiben, als auch bei der WF-Messung? Kind hält z. B. beim Schreiben/Lesen den Kopf schief (und hat damit eventuell einen Höhenfehler korrigiert/kompensier), bei der Messung hielt es ihn aber vielleicht gerade, weil es dazu eventuell auch angehalten wurde (soll man ja) - und schon wurde die WF aufgedeckt? Oder aber, es kann generell gut kompensieren und nur das Messgerät deckt den Fehler auf? Lass das Kind älter werden, die Ansprüche ans Lesen und Schreiben steigen und Kopfschmerzen kommen dazu - wer kommt dann gleich auf die Idee, es könnte eine WF dahinter stecken? Man müsste die Kinder also über längere Jahre beobachten.
Entschuldige, wenn das alles laienhaft klingt, ich bin der Laie unter Euch, aber ich schreibe halt, was ich beobachte, und wo ich versuche, mir einen Reim draus zu machen (Edward Jenner kam auf den Impfstoff zur Pockenimpfung dank einer Bemerkung einer einfachen Bauersfrau...).
Ich selber bin ja nun auch :wink:elfehlsichtig mit 0,5 in der Höhe (die aber nicht immer zu messen sind) und 7 eso. Ich denke, ich bin schon immer wf, aber ich hatte als Kind ausgezeichnete Lese- und Schreibkompetenzen und eine astreine Schrift, dafür war ich aber sonst schusselig, zerdepperte Gläser und Tassen beim Abstellen, rannte gegen Türen, hatte kein räumliches Vorstellungsvermögen und war schlecht im Rechnen.... und mit 15 fingen die Kopfschmerzen an.
... Ich denke, Winkelfehlsichtigkeit ist mehr als nur das....
..und was die hibbeligen Kinder, auch ADHS-ler genannt betrifft, die sollten ja sowieso einer eingehenden neurologischen Untersuchung unterzogen werden, ehe sie Ritalin und Co. verschrieben bekommen. Denn hinter AD(H)S kann sich auch eine Zyste im Gehirn verbergen. Und diese Zyste kann auch Auswirkungen auf das Sehen haben, je nachdem, wo sie gerade drückt. Diese Zysten heißen Pinealiszysten. Dies verriet mir AgnesMaria hier aus dem Forum, als ich sie wegen dieser Zysten befragte. Leider macht man beim Verdacht auf AD(H)S kein MRT sondern nur ein EEG.
ABER Der Weg ist das Ziel, und deshalb finde auch ich es wichtig und gut, dass solche Pilotstudien betrieben werden. Nur so kann man zu Erfahrung und Wissen kommen und dieses auch publik machen. Schade, dass ich Dich / Euch damit nicht unterstützen kann, mir fehlt die Kompetenz. Aber neugierig bin ich von Natur aus.
Viele Grüße
Kerstin
Egal was du tust, tu es mit Leidenschaft und Hingabe!
Pilotstudie zum Einfluss von Winkelrechtsichtigkeit auf gute
Hallo Kerstin,
danke für Deine Anmerkungen.
Nur ganz kurz zu einer Frage von Dir es wurde nicht speziell auf die Kopfhaltung geachtet.
Das Ziel dieser Pilotstudie war ja ganz klar umschrieben es gab eine Hypothese für :wink:elrechtsichtige Kinder, diese habe ich versucht zu prüfen und als Ergebnis hat sich diese Hypothese nicht bestätigen lassen.
Was bedeutet dies? Es ist immer noch möglich, dass die Annahme von Herrn Jens Haase zutrifft. Dies ist aber etwas unwahrscheinlicher geworden.
Also wäre der nächste Schritt, mit "richtiger" das heißt vollständiger MKH-Messung an eine Gruppe von Schulkindern heranzugehen und dann wieder die Leseleistung und die Handschrift-Leistung in Vergleich zu den MKH-Befunden zu setzen.
So einfach, aber in der Realität doch ziemlich aufwändig....
Viele Grüße
Volkhard
Pilotstudie zum Einfluss von Winkelrechtsichtigkeit auf gute
Hallo Volkhardt,
das ist der richtige Ansatzpunkt. Nur nach vollständiger MKH ist es sinnvoll, Studien durchzuführen.
Aber das soll ja jetzt auch in Ulm geschehen. Ist es ratsam, zusätzliche Studien zu machen?
Was wir nur machen können, ist, von jedem Kind, das das erste Mal kommt, eine Schriftprobe geben lassen und nach Korrektur vergleichen. Paul Gerhard hat ja schon eine riesige Sammlung von Beispielen vor und nach der Korrektion.
Viele Grüße
Eberhard
Pilotstudie zum Einfluss von Winkelrechtsichtigkeit auf gute
Hallo Eberhard,
jede Studie ist vom Ergebnis her offen, daher sollte man nicht zu viel Hoffnung auf die Ulmer legen.
Und was ich hier angesprochen habe, ist eine ganz überschaubare und spezielle Fragestellung. Und hierzu hat noch niemand systematisch etwas veröffentlicht.
Gruß
Volkhard
Pilotstudie zum Einfluss von Winkelrechtsichtigkeit auf gute
Hallo Volkhardt,
nicht böse sein, wenn noch keine Antwort auf die sehr komplexe Fragestellung kommt. Ich habe mir den Text ausgedruckt und morgen nachmittag oder abend werde ich ihn mir zur Brust nehmen.
Viele Grüße
Eberhard